Warum das ganze Lernen?
Vor ein paar Jahren traf ich einen ehemaligen Mitschüler von mir, neben dem ich von der 5. bis zur 7. Klasse auf einer Schulbank zusammensaß. Seitdem hatten wir uns nicht mehr gesehen.
Super stolz erzählte er mir, dass er inzwischen 3 Kinder hatte. Sein Business als Jeans-Händler, das er von seinen Eltern übernahm, wäre aufgeblüht und er verdiene jetzt überdurchschnittlich gut. Gott sei lieb zu ihm gewesen, meinte er. “Ich kann echt nicht klagen. Und was ist mit dir?”, fragte er dann neugierig.
Er wollte wissen, wie weit ich es im Leben gebracht hatte.
Damals war ich gerade aus den USA zurück gekehrt. Ein Jahr davor hatte ich gerade mein Studium in Deutschland abgeschlossen und jetzt überlegte ich, ob ich promovieren sollte. Ich war ledig. Kein Haus, keinen Mann, keine Kinder, kein Business, nicht mal einen festen Job. Er schaute mich mit Mitleid an und meinte: Dilyana, du warst doch immer die Klassenbeste... und wofür das Ganze? Langsam wird aber Zeit, dass du dein Leben auf die Reihe kriegst. Wir sind auch nicht mehr die Jüngsten.
Ja, wofür das ganze Lernen, das ganze Reisen, die Erfahrungen und die Menschen, die man kennenlernt...?
Ich musste nicht lange nachdenken. Die Antwort war klar... Hast du eine Vermutung, was meine Antwort war?
Natürlich hatte ich in seinen Augen noch einiges nachzuholen. Die Uhr tickte und ich hatte mich um die wichtigsten Sachen im Leben gar nicht gekümmert. Ein ewiges Lernen und Schlendern, keine Bodenständigkeit, keine Sicherheit.
Aus meiner Sicht war ich eigentlich noch früh dran. Schließlich war ich erst 25.
Ein Leben, so wie er es hatte, konnte ich mir gar nicht vorstellen. Ein anderes Leben wäre für ihn aber auch vielleicht nie in Frage gekommen.
Was ist so schlecht daran, würdest du fragen? Der Mann war ja anscheinend sehr zufrieden damit. Aber das ist es eben. An seiner Stelle wäre ich es nicht gewesen.
Hätte ich gleich nach der Schule geheiratet und drei Kinder bekommen, würde ich wahrscheinlich auch den ersten Beruf ergriffen, der mir Brot auf den Tisch gebracht hätte. Mit einer Familie hätte ich wahrscheinlich auch keine Zeit gehabt zu studieren, zu reisen oder von anderen Kulturen zu träumen.
Aber ich hätte mich immer gefragt: Was, wenn?
Was, wenn ich studiert hätte - was für ein Studienfach hätte ich gewählt?
Was, wenn ich eine Fremdsprache gelernt hätte - was für Menschen hätte ich da kennengelernt?
Was, wenn ich uns Ausland gefahren wäre - in welchem Land hätte ich gelebt?
Fragen über Fragen, die mir keine Ruhe gegeben hätten. Und nicht nur, weil ich gerne davon geträumt hätte, sondern weil ich keine andere Wahl gehabt hätte.
Denn in meinen Augen ist mein größter Reichtum die Fähigkeit, Fremdsprachen zu lernen.
Damit lernt man nicht nur, wie andere Menschen leben und denken, sondern man evaluiert immer wieder das eigene Selbstbild.
Wie leben denn andere Menschen?
Warum halten sie das für richtig und jenes für falsch?
Wieso verhalten sie sich anders als ich?
Ist irgendetwas falsch mit mir?
Man hinterfragt die eigene Denkweise, die eigenen Werte, die eigenen Prioritäten.
Es ist so, als ob man ständig vor eine neue Wahl gestellt wird: Wie möchtest du heute sein? So wie du schon immer warst? Oder anders?
Und es ist diese Auswahl, diese Vielfalt da draußen, die mir immer das Gefühl gegeben hat, am Leben zu sein. Frei zu sein und frei zu entscheiden, immer wieder aufs Neue, wer ich bin und wer ich sein möchte.
Wenn ich meinen ehemaligen Mitschüler heute treffen würde, würde ich ihm auch stolz erzählen können: Ich habe geheiratet. Zwei Kinder, Haus und das Business, das ich von meinen Eltern gelernt habe, blüht langsam auf. Er würde mich anlächeln, stelle ich mir vor, und würde dann sagen: Bravo, Dilyana! Gut, dass du auf meinen Rat gehört hast.
Neugierig schaue ich jetzt auf Facebook nach: Was macht er? Wo lebt er? Immer noch in unserer Heimatstadt? Ach, ja... interessant. Er ist mit seiner Familie nach England umgezogen. Hoffentlich ist Gott weiterhin lieb zu ihm.
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